Wenn etwas Neues kommt …

Ich liebe meine Tagesabreißkalender, die seit Jahren neben meiner Kaffeemaschine stehen und mich täglich mit einem neuen Gedanken begrüßen.

Dieses Jahr habe ich den Duden-Kalender „Vergessene Wortschätze“ und sehe täglich ein Wort,

  • das ich entweder noch nie gehört habe (was mir – Leseratte, Lektorin, Germanistin und Deutsch-Dozentin seit mehr als 25 Jahren – überraschend oft passiert),
  • das ich gut kenne, aber – das wird mir dann beim Blick auf den Kalender erst bewusst – schon seit Jahrzehnten nicht mehr gehört habe,
  • oder – und diese Fälle sind besonders spannend – das mir sehr lieb ist und dessen Anblick mich entsetzt, empört, mich nachdenklich macht: Warum ist das Wort in diesem Kalender? Was schleicht sich hier gerade aus dem Alltag, ohne dass es mir aufgefallen ist? Bin ich alt, lebe ich in einer Blase, bin ich aus der Zeit gefallen?

Wenn wir auf diese Worte sehen, die aus dem Alltag der Mehrheit verschwunden sind, wird klar: Die Worte verschwinden, weil sich Bezugssysteme, Rituale, Werte, aber auch technische Möglichkeiten und Infrastrukturen ändern. – „Nonen“ für „Mittagspause machen“ ist ein wunderbares Beispiel. Mit dem Wort „Nonen“ ist viel mehr als das Wort verschwunden: die Selbstverständlichkeit eines Tischgebets, eine Verbundenheit mit einem Schöpfer, vieles, was ich gar nicht benennen kann, weil ich ein Kind aus einem areligiösen Haushalt bin, das bei Mittagspause an Essen, Mittagsschlaf und Espresso denkt.

Ich schreibe diesen Blog ausgehend vom „Nonen“, weil ich vergleichbar grundlegende Umwälzungen in unserem Bildungswesen erlebe: Etwas Neues tritt in unseren Alltag. KI oder besser AI in Gestalt von ChatGPT und anderen Anwendungen. Unser erster Impuls: Wir addieren es. Im Berufssprachkurs bereiten einigen nun nicht mehr nur auf die B2-Sprachprüfung vor, sie überlegen, wie sie mithilfe von ChatGPT ihre Arbeitsblätter erstellen und wie sie ihre Lernenden davon überzeugen können, dass selber zu schreiben wichtig ist. Auch wenn deepL und ChatGPT dafür sorgen, dass wir schnell und gut zu unseren kurzfristigen Zielen kommen.

Wenn etwas Neues in unser Leben tritt, wird etwas anderes verschwinden. Und manchmal wird das, was bleibt, komplett auf den Kopf gestellt. Oder auseinandergerissen – und ganz anders wieder zusammengesetzt. Genau so ist es derzeit.

Ich bin überzeugt, dass Lernen, Schreiben, Arbeiten sich grundlegend verändern werden und dass nur wenige von uns sich ausmalen können, was das bedeutet. Ich kann es nicht. – Als die Elektrizität z.B. das Kerzenlicht abgelöst hat, hat das die Haushalte grundlegend verändert. Wer hätte sich zu Beginn der Elektrifizierung vorstellen können, dass in Küchen einmal Dinge wie Geschirrspüler, Mikrowellen und Stabmixer stehen werden? Thermomix und Kitchen Aid? Und dass diese Gegenstände den Alltag vollkommen verändern?

Unter Lehrkräften für Deutsch als Zweitsprache geht die Sorge um: Wie werden wir unsere Lernenden bei der Stange halten können? Wie werden wir sie dazu bringen, weiterhin fleißig Vokabeln zu lernen und Adjektive richtig zu deklinieren, damit sie in ihren Sprachprüfungen E-Mails an fiktive ehemalige Kursleiterinnen oder Beschwerden an fiktive Vermieterinnen verfassen können?

Ich habe absolut keine Vorstellung davon, wie wir in 10 oder 20 Jahren miteinander kommunizieren werden. Ich sehe aber: Wenn wir im Sprachkurs mit einem KI-Bildgenerator Bilder generieren – was sind dann unsere Prompts? Konkrete, detaillierte Beschreibungen und Arbeitsanweisungen. Vollständige Sätze, mal mit Imperativen, immer mit Adjektiven und einer Menge Gelegenheiten, eine passende Endung zu finden! Meine Teilnehmenden haben beim Generieren von Bildern viel Spaß. Und sie sind produktiv! Kreativ, motiviert und schnell. Sie korrigieren, präzisieren, erweitern ihre Beschreibungen, damit ihre KI-generierten Bilder das zeigen, was sie vor dem inneren Auge hatten.

Und wenn eine Lerngruppe gemeinsam einen Avatar erstellt und ihn einen Monolog über die wichtigsten Lerninhalte des Tages halten lässt, was sehen und hören wir dann?

Wir hören eine Stimme. Den Text aber haben die Lernenden vorher gemeinsam geschrieben. Sie haben diskutiert, priorisiert, Gedanken aneinandergefügt, Formulierungsvorschläge gemacht, abgewogen, korrigiert. Sie haben sich vielleicht Hilfe geholt, um Feedback gebeten, haben Vorschläge aufgenommen – oder auch nicht, weil sie ihre Version besser fanden.

Wenn ein Avatar spricht, bedeutet das nicht, dass uns die Schriftlichkeit abhanden gekommen ist. Sie ist nur nicht mehr auf einem Blatt Papier zu sehen.

Vielleicht sehen die Sprachprüfungen in ein paar Jahren genau so aus: Wir produzieren vielleicht ein Video, einen Comic oder einen Film. – Die Dialoge, Monologe, die szenischen Anweisungen: All das basiert auf Schriftlichkeit.

Und die mündliche Prüfung – muss sie mehr haben als diesen einen Bezugspunkt? Sie kann oberflächlich leicht und trotzdem so aussagekräftig sein: „Erzählen Sie doch einmal, wie Sie diesen Film erstellt haben. Womit haben Sie angefangen? Wie haben Sie es geschafft, die Personen so echt aussehen zu lassen? Und das Thema! Wie sind Sie zu diesem Thema gekommen? Erzählen Sie!“