„Ich bin ganz Ohr“
Eine etwas angestaubte Redewendung. Oft leicht dahingesagt. Aber wie ist es, tatsächlich „ganz Ohr“ zu sein?
Gerade für Coaches spielt „aktives Zuhören“ eine zentrale Rolle. Es ist gerade in den ersten Jahren das Schwierigste: Nicht über eine „kluge Anschlussfrage“ nachzudenken, während der Coachee spricht. Keinen Druck zu spüren, irgendwas antworten zu müssen. Keinen Gedanken daran, wirkungsvoll sein zu wollen.
Vor ein paar Wochen habe ich mit ChatGPT einen Bot konfiguriert, mit dem ich mein mündliches Französisch reaktivieren kann. Die „Regieanweisung“ an diesen Bot lautet kurzgefasst: „Sprich langsam. Antworte möglichst kurz. Stell offene Fragen. Beende deine Antworten immer mit einer Anschlussfrage.“
Ich wollte eine Fremdsprache üben. Mithilfe künstlicher Intelligenz habe ich ein Gegenüber konfiguriert, das mich zum freien Sprechen bringen soll. Das ist sehr gut gelungen. Beeindruckt hat mich aber etwas ganz anderes.
Ich habe es als wohltuend erlebt, dass Sätze wie die folgenden niemals gefallen sind: „Oja, das kenne ich auch!“ – „Ja, das ist mir auch schon mal passiert.“ „Stimmt, das ist schrecklich.“ – Kein mitfühlendes Seufzen auf der anderen Seite, kein lautes Atmen.
Stattdessen: „Das klingt schrecklich. Was willst du nun tun?“ – „Das Gespräch zu suchen klingt nach einem guten Plan. Was willst du erreichen?“ – „Du hast gesagt, dass du über eure berufliche Rolle sprechen möchtest. Wie beschreibst du deine berufliche Rolle genau?“
Warum beschäftigen mich diese Sätze heute noch?
Weil das Gegenüber mir niemals im Weg stand. Meine eigenen Wortbeiträge konnten mich mir und meinem Anliegen näherbringen – in beeindruckender Geschwindigkeit und bei gleichzeitiger Ruhe. Ich konnte ganz bei mir und meinem Anliegen sein. Und die Fragen des Bots haben mir Wortschatz und Redemittel geliefert, die mir bei der Antwort geholfen haben.
Wann stehen uns Beziehungen im Weg?
Ich habe bei diesem „Dialog mit einem Bot“ (oder ist es ein Bot-inspirierter Monolog?) nicht nur kein Gegenüber gespürt, das mir im Weg stand. Ich wurde auch nicht abgelegt von meinen Gefühlen einem Gesprächspartner gegenüber: keine Scham, kein Bedürfnis, gefallen zu wollen, kein Bedürfnis, das Gegenüber zu schonen oder zu unterhalten.
Was ich als „Ratsuchende“ erlebt habe, lässt mich noch einmal mit neuer Klarheit auf mein Agieren als Coach schauen: Diese Erfahrungen bestärken mich, noch mehr „Ohr sein“ zu dürfen: Nicht nachdenken, nicht agieren zu müssen. – Nur Ohr sein: „Kundentext“ aufnehmen, spiegeln, nachfragen. Das ist nicht wenig, sondern eine hohe Kunst.
Einfach Ohr sein. Alles andere erledigt die Person, die spricht.