Ein Gedanke lässt mich seit Tagen nicht mehr los

Eine Studie der Ludwig-Maximilians-Universität München (Link) zur Nutzung von intelligenten Systemen kommt zu folgender Beobachtung: Technologien, die menschliche Fähigkeiten verbessern, verändern das Risikoverhalten von Nutzerinnen und Nutzern. Das Autorenteam bezeichnen dieses Phänomen mit dem aus der Medizin bekannten Begriff „Placebo-Effekt“.

Menschen neigen also zu riskanterem Verhalten, wenn sie ihre Aktionen und Ideen durch KI-Tools bestätigt sehen. Auf diesen sogenannten Automation-Bias geht meine Co-Gründerin bei Deutsch im Job, Christiane Carstensen, bei ihren Vorträgen und Key Notes immer wieder ein, wenn sie einen Blick in die Zukunft der Bildungsbranche – eine Zukunft mit KI – wirft.

Aber da ist doch auch noch etwas anderes. Oder nicht?

Mit Deutsch im Job und Bildungs.Consulting schauen wir ganz genau auf den Bereich „Deutsch als Zweitsprache“ in der Erwachsenenbildung. Im Bereich der Sprachförderung geht es immer darum, Menschen in ihrer kommunikativen Handlungsfähigkeit zu stärken. Deshalb führt mich die genannte Studie zu folgendem Gedanken: Es ist ein großer Unterschied, ob ich auf einen Knopf drücke oder ob ich darüber spreche, auf einen Knopf zu drücken.

Auch beim Schreiben und Sprechen – Gedanken äußern, Vor- und Nachteile benennen, mögliche Konsequenzen beschreiben, abwägen usw. – können wir uns sicherer fühlen, wenn wir uns mit (vielsprachigen) KI-Tools vorbereiten konnten. Das ist etwas Wertvolles.  Im Kontext von Weiterbildung und Coaching nutzen wir gerne den – positiv besetzten – Begriff Empowerment. Und bezeichnen so die Strategien, die Menschen dazu ermutigen, aktiv zu werden, ihr Potenzial auszunutzen – ja, sich etwas zu trauen und innere wie äußere Schranken zu überschreiten.

Sehe nur ich interessante Schnittmengen zum Placebo-Effekt?

Ich finde, dass sich im Begriffspaar „Placebo-Effekt – Empowerment“ die Chancen und Gefahren der KI anschaulich verdichten lassen. Dieses Sowohl-als-Auch haben wir im Bereich der Weiterbildung immer schon erlebt, durch die Möglichkeiten der KI wird es nur schneller, größer, dynamischer.

Der Gedanke an den Placebo-Effekt lässt mich – damit habe ich diesen Beitrag begonnen – seit Tagen nicht mehr los. Das Schreiben dieses Posts hat mir geholfen, das Phänomen zu fassen und meine Gedanken zu sortieren. Losgeworden bin ich das Gedankenkarussell aber nicht.

Mir ist beim Schreiben nur deutlicher geworden, dass es immer ein Sowohl-als-Auch gibt. Dass wir nicht daran vorbeikommen, aufmerksam zu bleiben, immer wieder aufs Neue genau hinzuschauen und uns vor schnellen Urteilen zu hüten. Das ist in der heutigen aufgeregten Schnelllebigkeit extrem fordernd.

Und mir wird wieder einmal bewusst, dass die Einschätzung von Chancen und Gefahren der KI im Bereich Sprachförderung eine eigene Bewertungsformel hat.  – Ich glaube, dass sie einfacher und klarer als in anderen Bildungsbereichen ist: Um mich sprechfähig zu fühlen und um sprechfähig zu sein, brauche ich sprachliche Kompetenzen und das Gefühl, stark zu sein. Empowerment oder Placebo: Der Effekt ist herzlich willkommen.

Wenn es aber um praktisches Handeln geht, darum, den Knopf zu drücken oder das Messer anzusetzen, dann wird die Bewertungsformel wesentlich länger.

Ich schaue aber noch einmal zum Bereich der Sprachförderung, denn dort haben schauen wir einer ganz gewaltigen Herausforderung entgegen: Wie gelingt es uns, Menschen weiterhin zum Sprachlernen zu motivieren, wenn die intelligenten und eloquenten Übersetzungs- und Schreibassistenzsysteme so verfügbar sind? Wie gelingt es uns, freudvolle Trainings- und Lernphasen zu gestalten, damit die Lernenden ohne Endgerät in der Hand in der Zielsprache genau das ausdrücken können, was sie ausdrücken möchten? Wie gelingt es uns, Aufmerksamkeit für den Kontext zu erzeugen? Was bedeutet es für das Kompetenzprofil des pädagogischen Fachpersonals? Wie verändert sich die berufliche Rolle?

Wieder einmal hat mir der Schreibprozess geholfen, einen Fragenkomplex für mich zu klären und eine Position zu entwickeln. Dabei ist nun ganz zum Schluss dieser besondere Aspekt aufgetaucht, ein neuer – und für unsere Branche spezifischer und sehr herausfordernder – Fragenkomplex. Und der wird mich nun seinerseits die kommenden Tage, wahrscheinlich aber Wochen und Monate nicht mehr loslassen: Wie muss die Sprachförderung in Zeiten der KI gestaltet sein?

Haben Sie schon Ideen?